Es geht mir in diesem Projekt darum, die selten als solche behandelte politische und kulturelle Strömung des Links–Nietzscheanismus aufzuarbeiten. Ich gehe dabei von einem selbst nietzscheanischen Verständnis dessen aus, was der Sinn und Zweck der Betrachtung der Geschichte ist, wie er es in Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben artikuliert: “Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.”
Diesen Satz zitiert nicht umsonst auch Walter Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte: Nietzsche wie Benjamin geht es darum, die historischen Erzählungen als Resultat von Machtkämpfen zu begreifen – um Machtkämpfe, die darum ausgefochten werden, wie die Zukunft aussehen soll.
In diesem Sinne geht es mir darum zu zeigen, worin das unabgegoltene Potential des Links–Nietzscheanismus und vor allem Nietzsches selbst besteht – und zwar nicht aus einer unparteiischen Sicht (auch wenn ich natürlich einen wissenschaftlichen Anspruch erhebe), sondern aus einer linken Perspektive. Meine Frage ist: Wem dienen Nietzsches Werkzeuge? Dienen sie den Herrschenden oder dienen sie den Unterdrückten? Und wenn sie beiden dienen (wovon ich überzeugt bin): Wie können sie zu wirkungsvollen Waffen in dem Kampf um die universelle Emanzipation aller Menschen von unwürdigen Lebensbedingungen aller Art – darin besteht für mich der normative Kern dessen, was ‘links’ heißt, allen Verwässerungs- und Leugnungsversuchen zum Trotz – werden, selbst wenn sie nicht mit der Intention geschmiedet sein mögen, diesem Kampf zu dienen?
Ich bin überzeugt, dass es angesichts der gegenwärtigen Bedrohung des linken Projekts durch den postmodernen Relativismus andererseits (der sich oft genug links maskiert), die neurechte Vereindeutigung andererseits, heute wichtiger denn je ist, sich aus einer linken Grundhaltung heraus Nietzsche zu nähern. Denn beide dieser Bewegungen berufen sich auf Nietzsche und reklamieren ihn als einen der ihren – und sind mit nietzscheanischen Politiken äußerst erfolgreich. Ihre Nietzsche-Lektüren ähneln sich dabei: Für sie ist Nietzsche der Anti-Universalist, der große Verteidiger des Partikularismus und der emotionalen Enthemmung.
Meine Gegenthese: Nietzsches Kritik am klassischen (idealistischen) Universalismus sollte sehr ernst genommen werden und zu einer Preisgabe kantianischer oder hegel-marxistischer Politiken und Ideologeme führen (in der Gegenwart der entweder kantianisch oder hegelianisch legitimierte Links–Neoliberalismus in seiner nicht-postmodernistischen Gestalt) – doch der Witz seiner Philosophie besteht gerade darin, trotz der Einsicht in die Ausweglosigkeit des klassischen Universalismus an dem Traum von einer unter einem Ziel geeinten Menschheit, einem neuen, nicht-entfremdenten Menschen, dem Übermenschen, festzuhalten. Nietzsche ist kein Anti- oder Post-Humanist, sondern Humanist ohne Präfix, ja, er zeigt sogar den (wahrscheinlich) einzigen gangbaren Weg auf, den Humanismus unter modernen Bedingungen zu restituieren.
Für den sich abzeichnenden Kampf zwischen partikularistischen Kräften und solchen, die an einer irgendwie humanen Perspektive festhalten (darunter der Sozialismus), gilt es sich gedanklich zu rüsten, um der Menschheit das Abgleiten in eine neue Phase der Barbarisierung zu ersparen. Nietzsche, der Ende des 19. Jahrhunderts wie ein “Seismograph” (Ernst Jünger) die Katastrophen des 20. erahnte (und dabei als Akzelerator missbraucht wurde), kann vielleicht heute helfen, als Inhibitor zu fungieren – oder vielleicht sogar als jemanden, dessen Denken Anregungen zu einer Beschleunigung in eine fundamental andere Richtung geben kann, als sie gegenwärtig eingeschlagen wird.
Meine Kernbotschaft lautet also erst einmal nichts weiter als: “Zurück zu Nietzsche!”