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Leo Schestow

"Die Nutzlosigkeit und Unnötigkeit eines Gedanken oder gar einer ganzen Reihe, eines Systems von Gedanken, ist kein hinreichender Grund, sie zu verwerfen. Ist der Gedanke erst einmal da - muss ihm Tür und Tor geöffnet werden. Versperrt man ihm den legalen Zugang, wird er mit Gewalt eindringen oder insgeheim sich einschleichen. Der Gedanke nimmt keine Rücksicht auf die Gesetze von Ehre und Moral."

Leo Schestow ist auch so ein eigentümlicher philosophierender Außenseiter, der stark von Nietzsche beeinflusst wurde. Allerdings ist er auf den ersten Blick, darin Nietzsche nicht unähnlich, weder links noch rechts zu verorten. Man könnte vielleicht sagen, dass er vor allem versucht ein radikal unpolitischer Denker zu sein. Nicht umsonst betitelt er sein vielleicht wichtigstes Werk als "Apotheose der Grundlosigkeit".

Obwohl er offensichtlich ein großer Verehrer Nietzsches ist, sind viele seiner Gedanken diesem entgegengesetzt. Vielleicht hätte Nietzsche, wenn er zu Schestows Blütezeit  noch gelebt hätte, in ihm u.a. " den bisher größten Philosophen des Ressentiments " erkannt. Gerade das macht Schestow, zusammen mit seinem brilliantem Witz, auch so lesenswert. Er erkundet die sogenannten menschlichen Abgründe und das in einem sehr individuellem "schrulligem" Stil, der zugleich, trotz der oft dunklen Themen, nicht verdüsternd, sondern merkwürdig erhellend wirkt.

"Habe mich erinnert, dass Nietzsche von sich selbst sagte, er vermöge das Material seines Denkens nicht so weit zu beherrschen, dass er es in Harmonie aufgehen lassen und im Kopf des Lesers Ordnung schaffen könne. Alles was  er vermöge, sei >> ein bisschen singen und ein bisschen seufzen<<."

"Es ist schändlich heillos unglücklich zu sein. Der heillos unglückliche Mensch verliert den Schutz durch irdische Gesetze. Jegliches Band zwischen ihm und der Gesellschaft löst sich für immer auf. Und da jeder Mensch, früher oder später, dazu verurteilt ist, heillos unglücklich zu sein, muss also das letzte Wort der Philosophie  >>Einsamkeit<< sein."

"Doch sich geradewegs zu seiner menschlichen Schwäche zu bekennen und zu sagen, wie jeder entkräftete Wanderer es tut : >> Bin müde, will rasten, und sei´s bloß im eingebildeten Glauben an das erreichte Ziel.<<  Kaum einer der Schöpfer grandioser Systeme wird sich, solange es die Philosophie gibt, solche Offenheit gestatten! Aber auch dies zu sagen: Wer den Ruhm eines Alexander von Makedonien anstrebt und sich die Erde unterwerfen will, der wird den gordischen Knoten nicht entwirren, sondern zerhauen. Verliert der Mensch die Fähigkeit und die Kräfte sich voranzubewegen, dann schickt er sich an zu behaupten, er habe das Endziel erreicht und man könne und brauche nicht weiterzugehen - es sei nun Zeit mit der Errichtung einer Weltanschauung zu beginnen. Möglicherweise liegt darin das Rätsel verborgen, weshalb jede neue Generation sich ihre eigenen Wahrheiten ausdenkt, solche, die mit den Wahrheiten früherer Generation keinerlei Ähnlichkeit, ja nicht einmal einen Prioritätbezug haben - auch wenn die Historiker mit größter Kraftanstrengung das Gegenteil zu beweisen suchen."

"Sich selbst zu loben, gilt als tadelnswerte Unbescheidenheit, derweil die eigene Partei, die eigene Philosophie, die eigene Weltanschauung zu loben fast als eine höhere Pflicht angesehen wird."

"Man muss das festgestampfte und ausgetretene Feld des zeitgenössischen Denkens aufreißen. Danach soll man allerorten, bei jedem Schritt, mit oder ohne Anlass, begründet oder unbegründet die am meisten anerkannten Meinungen lächerlich machen und stattdessen Paradoxa vorbringen. So wird man freie Sicht gewinnen."

"Die Philosophie darf mit der Logik nichts gemein haben; die Philosophie ist eine Kunst, angelegt, darauf, die logische Kette der Schlußfolgerungen zu brechen und den Menschen hinauszutragen auf das grenzenlose Meer der Phantasie, des Phantastischen, wo alles gleichermaßen möglich und unmöglich ist."

 

PS und Seiltaenzery haben auf diesen Beitrag reagiert.
PSSeiltaenzery

Danke für den Hinweis. Ich habe mich mit Leo Schestow bislang noch nicht beschäftigt, werde das aber bei Gelegenheit sicher nachholen. - Was Du schreibst, macht auf jeden Fall neugierig auf ihn.

Jonas hat auf diesen Beitrag reagiert.
Jonas
"Eine Partei des Lebens, vielfältig und diffus wie das Leben selbst, doch klaren Sinnes und von eiserner Disziplin, leidenschaftlich und volkstümlich, von Nietzscheschem Geist und von Marxen geschweißt, wird eine Gewalt sein, die alle Trumps und Macrons, alle Jinpings und alle von der Leyens, alle Bezos und Zuckerbergs, alle Sellners und Gaulands, alle Oligarchen und Ölscheichs hinwegfegen [...] wird." (Paul Stephan, Die Linke neu leben)

Er ist auf jeden Fall ein wirklich undogmatischer Denker. Ganz offensichtlich auch ein "Krypto-Anarchist", aber auch da schwer links oder rechts einzuordnen. Könnte mir vorstellen, dass auch ein Grund für seine etwas "unpolitisch" anmutende Philosophie ist, dass er seine Hauptwerke in Russland zur Zeit des späten Zarenreichs veröffentlicht hat. Dafür, dass es damals, glaube ich, kein wirkliches Recht auf freie Meinungsäußerung gegeben hat, geht er aber schon ziemlich weit in seiner "Kritik" der Gesellschaft zu dieser Zeit.

Ganz abgesehen davon liest er sich auch äußerst unterhaltsam.  Schestow unterhält sich in seinen Schriften mit anderen Philosophen und Schriftstellern, setzt sich mit ihnen auseinander und entwickelt so sein eigenes Denken. Von einigen seiner Zeitgenossen wurde seine Philosophie deswegen mehr oder weniger polemisch als sogenannte "Schestowisierung" anderer Denker bezeichnet. Ein großer Philosoph des Kommentars!

Habe bisher nur die "Apotheose der Grundlosigkeit" von ihm gelesen, aber das hat mich sehr mitgerissen. Freue mich schon auf zukünftige Leseerfahrungen mit ihm.

PS hat auf diesen Beitrag reagiert.
PS

Großartiger Artikel über ihn von seinem deutschen Übersetzer Felix Philipp Ingold:

https://www.matthes-seitz-berlin.de/artikel/felix-philipp-ingold-zum-ende-denken.html

" (...)

Die Philosophie, verstanden als "System" oder als "Lehre", wollte er abgelöst sehen durch die permanente Tätigkeit freien Philosophierens, die keineswegs den Meisterdenkern vorbehalten bleiben, sondern von jedermann praktiziert werden sollte. Selbständiges kritisches Nachdenken und subjektive skeptische Nachdenklichkeit hielt Schestow für seine Daueraufgabe angesichts der "grossen Erzählungen", mit denen, seiner Überzeugung nach, die abendländische Philosophie die Lebens- wie auch die Glaubenswelt der Menschen eher verdunkelt denn aufgehellt und ausgedeutet habe. Durch freies eigensinniges Philosophieren, das durchaus widersprüchlich, aber auch poetisch sein durfte, sollten die deterministischen und reduktionistischen Lehrgebäude der Schulphilosophie zumindest erschüttert, wenn nicht gesprengt werden. Und mehr als das - Schestows erkenntniskritischer Furor ging über die Philosophie weit hinaus, er liess keinerlei Konventionen, Normen, Dogmen, Gesetze gelten, lehnte sich nicht nur gegen jede Rationalität auf, sondern auch, ganz pauschal, gegen die auf formaler Logik und Kausalität gegründete "Autokratie der Vernunft", welche das menschliche Leben begradigt, es der Notwendigkeit unterworfen habe.

(...)

Niemand hat als Partner oder Schüler seines Denkens überdauert. Selbst sein bestimmender Einfluss auf die französische Existenzphilosophie und die Literatur des Absurden, vorab auf Albert Camus, sowie auf Autoren vom Rang eines Georges Bataille, eines E. M. Cioran oder Eugène Ionesco ist weitgehend unerkannt geblieben, weil kaum jemand diesen Einfluss explizit gemacht hat - Schestow, dessen Hauptschriften schon früh ins Französische, Deutsche, Spanische übersetzt wurden, blieb allzu lange ein Geheimtipp, auf den man sich nicht eigens berufen musste und der sich entsprechend problemlos nutzen liess. Namentlich Sartre und Camus gehören zu diesen heimlichen Nutzniessern - ohne Lew Schestows einsame Vorarbeit hätten Meistertexte wie "Der Fremde", "Der Mythos von Sisyphos" oder "Die Wand" nicht entstehen können. "

PS und Seiltaenzery haben auf diesen Beitrag reagiert.
PSSeiltaenzery