Wie wohl die allermeisten hätte ich eine Invasion Putins nicht für möglich gehalten. Ich dachte, es handelte sich um einen Bluff, um die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erreichen. Ich bin nun eines Besseren belehrt worden.
Noch in einem weiteren Punkt wurden meine Vorurteile in der letzten Woche korrigiert: Ich hätte gedacht, die Invasion der Ukraine würde allenfalls ein paar Tage dauern. Dabei hätte ich mich nur daran erinnern müssen, was ich selbst in meiner Broschüre Die Linke neu leben geschrieben habe:
Leidenschaft und Erotik sind es, aus denen Revolutionen geboren werden, niemals bloß Hunger und Wut. Das Volk will nicht Brot, es will auch nicht Kuchen: Es will die Bäckerei. Die begeisterten Volksheere waren, Georges Sorel etwa betonte dies, allen konterrevolutionären Armeen überlegen, Napoleon, der diese Leidenschaft aufgriff und formte (auch dies stets ein wesentliches Moment jeder erfolgreichen Revolution), eroberte mit diesem Heer von aufopferungsbereiten Helden ganz Europa. Es waren keine Söldner, die sich für ihren Lohn verdingten und auch kein aufgehetzter Pöbel, sie kämpften auch nicht für künstliche Faschistenträume: Sie kämpften für ihre Freiheit, ihre Gleichheit und ihre Brüderlichkeit und nur unter Aufbietung aller konterrevolutionären Kräfte der gesamten Welt konnten sie bezwungen werden. Und nicht zuletzt, weil sich die deutschen Staaten derselben Kräfte bedienten! – Die Macht kommt nicht aus den Gewehrläufen – sie kommt aus den Herzen. Die Waffen sind wichtig und auch die Strategien der Offiziere – doch auch sie werden nur mit Leidenschaft erfunden und gefertigt. Ein leidenschaftlicher Terrorist sprengt tausend bezahlte Söldner in die Luft. Nietzsche hat Recht, Marx und seine Nachfolger wurden immer wieder in der Praxis widerlegt. Selbst wenn die Kräfte der Kälte eine Schlacht gewinnen: Es wird immer ein Pyrrhussieg bleiben, da an die Stelle der gefallenen Helden zehn Mal so viele treten werden, die zehn Mal so leidenschaftlich kämpfen werden.
Die aktuellen Ereignisse bestätigen diese allgemeine Beobachtung: Der „subjektive Faktor“ ist entscheidend, eine entschlossene, motivierte Bevölkerung kann es mit einem technisch überlegenen, aber unmotivierten Söldnerhaufen in einer solchen Situation locker aufnehmen. Selbst wenn Putin die Ukraine militärisch besiegt, dürfte es ihm schwer fallen, dieses tapfere Land dauerhaft zu beherrschen.
Zufälligerweise habe ich wenige Tage vor der Invasion einen gemeinsam mit meinem ukrainischen Kollegen Vitalii Mudrakov verfassten Artikel mit dem Titel Eine Revolution der Selbstüberwindung. Friedrich Nietzsche und die ukrainische Transformation bei einer ukrainischen Philosophiezeitschrift eingereicht. Wir analysieren in diesem Artikel die ukrainische Freiheitsbewegung der letzten Jahrzehnte als einen rhizomatischen Aufstand des Lebens gegen eine kalte, korrumpierte Macht. Ich hoffe, dass dieser Artikel schon bald veröffentlicht werden kann, da er sich überraschend genau auf den gegenwärtigen Krieg anwenden lässt. In ihm wiederholt sich nur, was man seit der Orangenen Revolution von 2004 beobachten kann: Krampfhaft versuchen Russland bzw. die prorussischen Oligarchen, mit Gewalt und Lüge ihre Macht aufrechtzuerhalten, doch immer wieder obsiegt die sanfte, horizontale Macht der Menge über die vertikale Struktur der Tyrannei. Es ist nun ihr letztes Aufbäumen.
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der korrupte Moskauer Despot nicht davor zurückschrecken wird, dieses wunderschöne Land in Schutt und Asche zu legen mit allen Mitteln der modernen Kriegstechnik. Doch es wird ihm nicht gelingen, die erlange Würde und Unabhängigkeit zu brechen: Wie ein Phönix wird das Land aus den Ruinen wiederauferstehen und umso gefestigter in seinem Freiheitswillen sein.
Ich bin beeindruckt von den Bildern des mutigen ukrainischen Widerstands, die derzeit im Internet kursieren, aber auch von der globalen Welle der Solidarität mit dem ukrainischen Volk, die sich sogar im „Herz der Finsternis“ selbst nur mühsam unterdrücken lässt. Dies ist ein Zeichen der Hoffnung und des Zusammenwachsens der Welt: Wir spüren, dass dieser Krieg kein fremdes Ereignis ist, sondern dass hier auch unsere eigene Freiheit bedroht wird, und wehren uns dagegen.
Wir sollten uns aber auch genauso entschlossen gegen die Versuche wehren, diese Krise zur Rechtfertigung eines neuen Aufrüstens zu verwenden. Sicher kann man einem Tyrann wie Putin nicht bloß mit Worten begegnen. Doch gerade jetzt gilt es, selbstkritisch zu hinterfragen, wie es zu dieser Situation überhaupt kommen konnte: Hat die NATO bzw. der Westen sich in der Vergangenheit nicht ebenso schändlich verhalten und damit nicht nur einen, sondern gleich mehrere Präzedenzfälle für den gegenwärtigen Angriffskrieg geschaffen? Erleben wir in Kiew jetzt nicht nur eine weniger subtile, brutalere Wiederholung dessen, was die Welt in Serbien, in Afghanistan[1]Man spottet jetzt beispielsweise über das russische Tabu, den Angriffskrieg auch als einen solchen zu bezeichnen – doch musste in Deutschland nicht sogar ein Bundespräsident zurücktreten, … Continue reading oder im Irak erlebt hat? Hat der Westen nicht seit Jahrzehnten gezielt eine militärische Bedrohung gegenüber Russland aufgebaut, anstatt sich um eine dauerhafte Stabilität zu bemühen? Und wieso ist es Deutschland und Europa nicht gelungen, die schändliche Erpressbarkeit zu vermeiden?
Für mich stellt sich die Lage jedenfalls eindeutig so dar, dass Deutschland und der Westen mitverantwortlich für das gegenwärtige Schlamassel sind – weil wir uns in Wahrheit gar nicht so sehr von Putin unterscheiden, wie wir uns gerne einreden. Hauptleidtragender ist die vom Westen im Stich gelassene ukrainische Bevölkerung. Wir sollten möglichst viele Flüchtlinge aufnehmen und uns unserer Verantwortung stellen. Anstatt auf die Propaganda der NATO und der Militärs hereinzufallen, sollten man jetzt mehr denn je in Frage stellen, wozu wir dieses aggressive Bündnis überhaupt benötigen und ob wir mit einem anderen Verteidigungsbündnis ohne die USA – die sich jetzt darüber freuen, uns ihr Frackinggas verkaufen zu können – nicht besser fahren würden.
Vor den verheerenden kulturellen Folgen einer Militarisierung der Gesellschaft warnte jedenfalls bereits Nietzsche in der Götzen-Dämmerung:
Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, dass die deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat — das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus, — giebt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat — man betrüge sich hierüber nicht — sind Antagonisten: „Cultur-Staat“ ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst antipolitisch. — Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen Napoleon, — es gieng ihm zu bei den „Freiheits-Kriegen“… In demselben Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris übergesiedelt; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland, — die Deutschen sind selbst unfähig zu dieser Art Ernst. — In der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des „Reichs“ vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss es überall bereits: in der Hauptsache — und das bleibt die Cultur — kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt: habt ihr auch nur Einen für Europa mitzählenden Geist aufzuweisen? wie euer Goethe, euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte? — Dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist des Erstaunens kein Ende. —
References
↑1 | Man spottet jetzt beispielsweise über das russische Tabu, den Angriffskrieg auch als einen solchen zu bezeichnen – doch musste in Deutschland nicht sogar ein Bundespräsident zurücktreten, weil er dieses Wort mit Bezug auf den Afghanistan-„Einsatz“ verwandte und zu offen über die dortigen ökonomischen Interessen des hehren Westens sprach? |
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Dazu aus .. „Das Mittel zum wirklichen Frieden“ … ein Kommentar von Nietzsche ..
„Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich abschwören als den Eroberungsgelüsten …das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muß: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist – Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen: sonst würden sie wissen, daß sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine »allmähliche Herabminderung der Militärlast« arbeiten.“
Ja, die Rede vom „bewaffneten Frieden“ greife ich ja in dem anderen Artikel auf.
Nietzsche scheint mir da wirklich genau ins Schwarze zu treffen in diesem Text!
“Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich abschwören, als den Eroberungsgelüsten …das ist das Mittel zum wirklichen Frieden.
Friedrich Nietzsche
Nur das einmal .. unmissverständlich! .. klar wird , womit Nietzsche hiermit genau ins Schwarze trifft .. ich setzte ein! ..
“Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Notwehr .. in der Ukraine ,wie auch in der Nato! .,. muss man ebenso gründlich abschwören , als den Eroberungsgelüsten .. von Putin! …das ist das Mittel zum wirklichen Frieden.“
Ja, ich denke, das könnte man auf die gegenwärtige Situation anwenden. Wie würde Putin schauen, wenn die Ukrainer einfach die Waffen niederlegen und rein auf Methoden des zivilen Ungehorsames zurückgreifen würde?
Wenn man einen übermächtigen Feind besiegen will, muss man sich auf eine andere Ebene als er begeben. Mir wird immer deutlicher, dass das eine der Kernideen Nietzsches ist.