Zu Schuhmanns Kritik – Eine kurze Replik

Auf dem Portal Kultur und Politik hat der Politikwissenschaftler Maurice Schuhmann unter dem Titel Nietzsche aus linker Sicht nach den bisherigen eher positiven nun eine eher negative Besprechung meines Links–Nietzscheanismus-Buches vorgelegt (Link). Er weist eingangs darauf hin, dass mein Buch in der Tat eine Forschungslücke schließt und fasst die Grundthesen meines Buches adäquat zusammen, kommt dann aber insgesamt zu dem Fazit, dass ihn mein Buch nicht überzeugt hätte. (Wobei ich mich freue, dass er die Abschnitte zur Psychoanalyse und zur Frankfurter Schule von dieser Kritik dezidiert ausnimmt.)

Ich möchte auf seine wichtigsten Kritikpunkte hier kurz antworten, da manche auch von anderer Seite aus artikuliert wurden:

 

a) Zitat statt Paraphrase

Schuhmann bemängelt, dass ich zu lange Nietzsche-Zitate bringen würde – gesteht mir aber zu, dass ich mit dieser ‚Unart‘ nicht alleine liege. Allerdings liegt diese ‚Unart‘ im Fall Nietzsches auch einfach in der Sache begründet: Sein Denken ist von seinem Stil kaum zu trennen, so dass in der Paraphrase eben vieles verloren geht – noch mehr als bei anderen Denkern. Sicher hätte man das eine oder andere Zitat ein wenig mehr kürzen können – vielleicht aber auch an der einen oder anderen Stelle ein Zitat mehr einbauen können. Ich glaube grundsätzlich, dass ich bei Nietzsche – und auch den anderen behandelten Autoren – einen ganz guten Mittelweg in dieser Hinsicht gefunden habe. Wirklich lange Nietzsche-Zitate finden sich in meinem Buch nur vereinzelt und nur an Stellen, in denen ich es für absolut geboten hielt – ich begründe das dann meist auch kurz.

 

b) Bruchstückhaftigkeit

Hier macht sich Schuhmann aus meiner Sicht eines offensichtlichen Widerspruchs schuldig: Einerseits beklagt er die Abwesenheit einzelner Figuren, andererseits legt er ja klar dar, dass eine vollständige Darlegung der gesamten Nietzsche-Rezeption eine „Sisyphusarbeit“ wäre und auch erklärtermaßen – vgl. die entsprechenden methodischen Abschnitte in Band 1 – nicht der Anspruch meines Buches ist. Jeder Experte wird den einen oder anderen Autoren vermissen. Ich habe es beim Schreiben bewusst dafür entschieden, einzelne Lücken in Kauf zu nehmen und dafür bei den ausgewählten Autoren in die Tiefe zu gehen.

Als Beispiel nennt Schuhmann Ret Marut alias B. Traven, Theodor Plivier und Georges Palante. Ich muss offen zugeben, dass ich von den ersten beiden den Namen zum ersten Mal lese (was entweder gegen meine Qualifikation spricht – oder vielleicht auch einfach dagegen, dass diese Schriftsteller wirklich wichtige Figuren der linken Nietzsche-Rezeption gewesen sind) – und im Falle Palantes läuft Schuhmann fehl, ich erwähne ihn nämlich durchaus (wenn auch in der Tat nur sehr kurz). (Ein Malheur, das wohl daran liegt, dass ich ihn nicht im Kapitel über den Anarchismus, sondern andernorts behandle – wobei ein Blick ins Namensregister genügt hätte, um auf ihn zu stoßen. – Dass ich im Teil über Anarchismus sehr selektiv verfahre, mache ich völlig explizit und ist ja schon ersichtlich, wenn man einfach nur das Inhaltsverzeichnis von Miethings Studie betrachtet. Das Thema ist eben ein Buch für sich wert und anstatt es bei bloßem name dropping zu belassen, wollte ich lieber auf die zentralen Figuren Landauer und Goldman ausführlicher eingehen.)

Den Vorwurf der „vielen blinden Flecken“ muss ich also in dieser Hinsicht wirklich entschieden zurückweisen – auch wenn ich Schuhmann zustimme, dass mein Buch das Thema eben nicht erschöpfend behandelt und weitere Forschungen zu diesem Themenfeld dringend geboten sind. Und genau: Auch ich selbst werde zu diesem Thema weiterhin forschen – eine „stark erweiterte“ Fassung des Links–Nietzscheanismus-Buchs sehe ich aber eher als potentielles Alterswerk an. Das Buch hat schon knapp 700 Seiten, das sollte erst einmal genügen bzw. ist für ein Einführungswerk ja eher zu viel als zu wenig. Eine stilistisch überarbeitete und inhaltlich in wenigen Details ergänzte zweite Auflage des ersten Bandes wird in Kürze erscheinen – eine entsprechende Neuedition auch des zweiten Bandes mit einigen Korrekturen wird sicher bald folgen.

Ich denke jedoch, dass ich alle wesentlichen Figuren durchaus zumindest erwähne – wozu die beiden von Schuhmann zu Recht genannten Autoren ja wohl kaum zählen. Dass man hier und da die Akzente anders hätte setzen können, gebe ich gerne zu – aber das ist bei derartigen Büchern ja stets der Fall.

 

c) Mangelnde Berücksichtigung der Sekundärliteratur und Umgang damit

Gemäß dem Anspruch, einen Einführungsband zu verfassen und keine Gesamtdarstellung, ist es wahr, dass ich in einigen Kapiteln – ganz ausdrücklich – erschienene Sekundärliteratur referiere und nur bedingt eigene Forschungsergebnisse. Mein Anspruch war es dabei nicht, den gesamten Forschungsstand zu referieren, sondern ich habe mich größtenteils auf Standardwerke wie eben die erwähnte Studie von Miething, zu der ich im 2019er-Heft der Nietzsche-Studien auch eine Rezension veröffentlicht habe, Christian Niemeyers Nietzsche-Lexikon, Steven E. Aschheims Nietzsche und die Deutschen oder Carol Diethes Vergiss die Peitsche verlassen. Wobei man bei genauerem Blick schnell erkennt, dass ich diese Studien oft auch stillschweigend korrigiere und von ihnen abweiche – was ich allerdings oft nicht kenntlich mache, da es meist um Detailfragen geht, die für mein potentielles Publikum nur bedingt von Interesse sind. Diethe beispielsweise, meine Hauptquelle zur weiblich-feministischen Nietzsche-Rezeption vor dem Ersten Weltkrieg, nennt Fanny zu Reventlow „Franziska“, obwohl Fanny, soweit meine eigenen Recherchen ergaben, ihr ‚richtiger‘ Name gewesen ist und nicht ihr Spitzname. An Diethes Darstellung ist zudem zu kritisieren, dass sie oft dem Leben der behandelten Frauen zu viel Raum gibt und sich zu wenig mit ihren Gedanken und Schriften befasst – diese Lücke versuchte ich durch eigene Nachforschungen so gut es ging zu füllen, auch wenn man gerade zu jener Generation von Nietzsche-Rezipientinnen noch vieles wird ergänzen können. – Auch was Miething angeht, knüpfe ich an die Ergebnisse seiner Studie zwar an, weiche aber, insbesondere etwa im zentralen Abschnitt zu Gustav Landauer oder denjenigen über die „Jungen“, eine nietzscheanische Dissidentengruppe innerhalb der SPD, die um 1890 aus der Partei ausgeschlossen wurde, auch erheblich von seiner Darstellung ab – und auch in meiner Rezension kritisiere ich einzelne Details seiner Forschungen.

Einfach nur zu monieren ‚Autor x berücksichtigt aktuelle Sekundärliteratur nicht‘ ist zudem ein geradezu ‚kostenloses‘ Argument, wenn es vollkommen abstrakt bleibt. So viel Sekundärliteratur gibt es eben zu den behandelten Themen nicht – man müsste schon konkret zeigen, welche Sekundärliteratur genau missachtet wurde und zu welchen inhaltlich besseren Resultaten ihre Beachtung geführt hätte gemäß dem selbsterklärten Anspruch des Buches. Diesen Nachweis erbringt Schuhmann allerdings nicht, sondern belässt es in dieser Hinsicht bei vagen Andeutungen. Wo ich hinter den „aktuellen Stand der [ja eben kaum vorhandenen] Forschung“ zurückfallen würde, wäre jedenfalls konkret zu zeigen, anstatt einfach zu behaupten – die kürzlich erschienene Monographie von Miething beispielsweise ist ja eben die neuste Studie in Sachen anarchistische Nietzsche-Rezeption und auch sonst beziehe ich mich entweder auf Standardwerke oder die einzigen oder die jüngsten Forschungsbeiträge zum Thema.

 

d) Zusammenfassendes Fazit

Schuhmann bemängelt zudem, dass es kein zusammenfassendes Fazit gäbe. Das Gesamtfazit des Buches findet sich freilich durchaus im ersten Band und es werden immer wieder Zwischenfazite gezogen und grobe Leitlinien in den jeweiligen Eingangskapiteln der Hauptteile skizziert. Ich gebe allerdings zu, dass – wie ja auch Schuhmann anerkennt – das Problem in der Sache selbst liegt: Die linke Nietzsche-Rezeption ist eben zu vielfältig, um sie einfach mal auf drei Seiten kurz zusammenzufassen; sie existiert gar nicht im Singular, sondern im Plural. Ich habe, um dieser Vielstimmigkeit seriös gerecht zu werden, an vielen Stellen in der Tat bewusst darauf verzichtet, den ‚Sack zuzumachen‘ – zugleich mich aber eben auch darum bemüht, es nicht bei einem flachen ‚x sagte dieses, y sagte jenes‘ zu belassen (wie es ja leider allzu oft getan wird in entsprechenden Darstellungen), sondern die meines Erachtens wichtigsten Fäden aufzuzeigen und inhaltliche Konflikte klar als solche zu benennen, in solchen oft auch Partei zu beziehen.

 

Ich stimme Schuhmann also zu: Eine Gesamtdarstellung zu linkes Nietzsches Rezeptionsgeschichte gibt es bislang nicht – liegt aber eben auch in Gestalt meines Buches nicht vor. Sie müsste wahrscheinlich auch mehr als nur zwei Bände umfassen. Eine Einführung in dieses Feld auf dem Stand der relevanten Forschungen zu ihm gegeben zu haben, beanspruche ich jedoch durchaus und kommende Forschungen – oder gar eine Gesamtdarstellung – werden sich darauf beziehen können. Und mehr steht auf dem Titelblatt ja auch nicht. Es ist schade, dass Schuhmann mein Buch mithin an einem ihm recht äußerlichen Maßstab gemessen hat.

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